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Von Ritualen, Drängen und Zwängen

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Ihr Blick fiel als erstes auf ‚ihren‘ besetzten Stuhl im Wartezimmer der Therapiepraxis. Sofort breitete sich Unsicherheit in ihr aus. Natürlich waren da noch einige andere Sitzplätze, aber es war doch ihr Platz. Auf diesem Stuhl saß sie immer. Immer…bisher. Gut, manchmal stand sie auch am Fenster und beobachtete die Menschen, die hektisch zur oder aus der U-Bahn liefen. Aber in der Regel saß sie dort auf ‚ihrem‘ Stuhl.


Es dauerte einen Moment bis sie merkte, dass sie noch immer im Raum stand und auf den besetzten Stuhl starrte. Ein Blick zur Uhr verriet ihr, dass er eh gleich kommen würde und sie abholte. Wiederwillig setzte sie sich in eine Ecke des Sofas, welches gegenüber von ihrem Platz stand. Ruhig und besonnen sein, sprach es wie ein Mantra in ihrem Kopf. Sie war alles andere als besonnen und wechselte in kurzen Abständen die Sitzposition.

Er schloss das Fenster und begab sich in Richtung Wartezimmer. Wie immer blieb er in der Tür stehen und forderte sie mit einem Blick auf mitzukommen. Ihm fiel auf, dass sie heute woanders saß, schenkte dem aber keine weitere Beachtung. Sie begrüßten sich und gingen in sein Büro.

Zunächst galt es ihre Versichertenkarte einzulesen und während er das tat, stand sie am Fenster und schaute hinaus. Sonst blieb sie neben ihrem gewählten Sitzplatz stehen und wartete bis er fertig war.

„Na, so forsch heute und am Fenster stehen?“
„Hm, warum?“
„Na sie stehen am Fenster heute.“

Sie war durcheinander. Ihr fehlte die Orientierung. Es war vielleicht banal, aber heute lief es schief, ihr Platz im Wartezimmer war besetzt. Sie kam nicht richtig in der Praxis an. Das aber sagte sie ihm nicht. Stattdessen antwortete sie nur, dass hier schließlich die Heizung sei. In ihrem Kopf wirbelten Gedanken hin und her. Es fühlte sich nicht richtig an. Sie selbst fühlte sich nicht richtig an. Das Bedürfnis nochmal von vorn zu beginnen überkam sie. Sie sprach zu sich selbst – in sich hinein, dass sie eben jetzt hier anfängt anzukommen. Wenn es nur so einfach wäre…

Er gab ihr die Karte zurück und ging um seinen Schreibtisch herum zu dem Platz, wo er während der Sitzung saß. Er setzte sich nicht sofort, denn vor dem Haus stand ihr neues Auto, dass er sich zunächst noch anschaute. Und er schaute und schaute. Dass sie innerlich immer unruhiger wurde, nahm er nicht wahr.

Um es beiläufig klingen zu lassen, sagte sie:  „Gucken Sie mir nicht mein ganzes Auto weg.“ Innerlich begann es zu toben. Warum sah er noch immer aus dem Fenster? Warum setzt er sich nicht endlich hin? Alles ist heute so anders. Alles fühlt sich so falsch an. Es hat so falsch angefangen.

Nachdem beide nun Platz genommen hatten, berichtete sie von den Veränderungen. Um ‚normal‘ zu klingen, zählte sie einfach alles auf. Der Herzschlag galoppierte voran und sie musste acht geben, dass ihr Sprachtempo sich dem ihres Herzens nicht anpasste. Ob er etwas sagte, wusste sie nicht. Sie nahm alles um sich herum nicht wirklich wahr, wandelte durch Nebelwaden und reagierte hier und da. Irgendwann sickerte durch, dass er wohl nach Zeichnungen fragte. Obwohl sie zunächst verwirrt war und kurz inne hielt, holte sie das Buch aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Sie gab das Buch ab. Es sei als Vergleich gemeint, denn als sie das Buch ‚abgab‘, gab sie sogleich sich selbst ab. Sie tauchte unter und verschwand im dichten Nebel. In ihrem Nebel fiel sie wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Während sie nichts von Raum und Zeit spürte, nahm sie sehr wohl den Drang in sich wahr. Es fühlte sich noch immer nicht richtig an. Warum war es ihr so wichtig, dass sie auf diesem Stuhl sitzen konnte? Warum setzte es ihr dermaßen zu, dass es heute anders lief als sonst? Die Worte aus diesen Fragen wurden zu sichtbaren Blöcken und immer schwerer breiteten sie sich aus. Die Angst von den Worten zerquetscht zu werden wuchs. Aber in ihrem Nebel konnte sie nicht auf Hilfe hoffen. Hier war sie allein.

Währenddessen erzählte er gerade, dass ein Umzug kurz bevor steht. Ihm war bewusst, dass einige seiner Klienten diese Nachricht nicht voller Freude aufnehmen würden. So war es auch in diesem Fall. Er wusste, dass solche Veränderungen Ängste hervorrufen. Was er nun sah, war also vorauszusehen. Dajana sprach von den Befürchtungen und er versuchte zu verdeutlichen, dass mit dieser Veränderung auch neue Erfahrungen gesammelt werden können.

Die Nachricht verbreitete sich wie eine Sturmflut im Inneren und riss alles auf dem Weg mit sich mit.

Er nahm die Anspannung war und sah wie unruhig sie wurden. Fand ein Wechsel statt?

„Wer ist jetzt da?“

„Ich noch. Erzähl was weiter.“ Sagte sie, während sie ihre Hände knetete und versuchte die Kontrolle zu behalten. Sie hörte ihn reden, meinte auch Fragen zu hören und antwortete mechanisch. Richtig hören könnte sie zu der Zeit nicht. Panik sickerte durchs Innen und traf wie ein Tropfen auf dem heißen Stein bis zu M.durch. Für ihn eine passende Gelegenheit um einmal mehr etwas zu entfachen. Er sah einen Moment der Schwäche bei D. und begab sich auf den Weg. D. spürte seine Nähe und um ein weiteres erhöhte sich der Herzschlag. M. brachte ein Beben mit seinen Bewegungen und sie wollte alles daran setzen, dass sie nicht wieder ein Opfer seines Angriffes wird. Es sollte, es durfte nicht eskalieren. Da., die ebenso von der Flut mitgerissen wurde, spürte es und begab sich ebenfalls in D.s Nähe. Sie war es, die M. den Weg versperrte und somit erreichte, dass D. wieder konzentrierter in der Unterhaltung mit dem Therapeuten sein konnte.

Weitere Wortbrocken drangen durch ihren Nebel. Überall um sie herum wimmelte es von Wortfetzenbrocken, die keinen rechten Sinn ergeben wollten. Ende. Therapieende. Unmöglich. Umzug. Veränderung. Fallenlassen. Alleinlassen…Panik ergriff sie und weiter wuchs der Drang sich zu verletzen, um sich zu spüren, um dem Druck ein Ventil zu geben. Sie taumelte durch den Nebel und fühlte sich einem Abhang nahe. Diese Gegend war gefährlich. Sie wusste, wenn sie sich vorstellte, wie sie an einem Abhang stünde, würde der Abhang irgendwann auftauchen. Dann riss eine Lücke in den Nebel und gab den Blick auf eine schier unendliche Tiefe frei. Sie kam näher, sie spürte es in jeder Faser ihres Körpers, wenngleich sie sicher war, nur aus zusammengewürfelter Materie zu bestehen. Sie besaß in diesem Zustand keinen Körper. Sie war alles und nichts. Es fehlte nur noch ein weiterer Schritt um sich fallen zu lassen. Eintauchen in ein Nichts, verschmelzen mit Schmerz, der kommen würde sobald sie irgendwo aufschlug. Auch wenn sie nie vorher wissen konnte, dass dieses Nichts ein Ende hatte. Im Moment war alles besser, als von diesen Wortfetzenbrocken zerquetscht zu werden. Wenn auf eines Verlass war, dann darauf, dass der Schmerz folgen würde – in welcher Form auch immer. Und er folgte. Rasend, stechend, pulsierend, brennend war der Schmerz nachdem sie aufprallte und im Dunkel lag. Nun war sie ihren Gedanken ausgeliefert. Bewegungslos…machtlos.

Sie dachte an die Zeit als sie die Praxis betrat. Ihr Platz war besetzt. Damit fing alles an. Aber schon seit Tagen stand sie ihren Macken ohnmächtig gegenüber.  Ihr Arbeitsplatz sah trotz ihrer Anwesenheit unberührt aus. Alles hatte seinen festen Platz. Im Auto musste das Radio eine bestimmte Lautstärke haben. Keine Abweichung der Einstellung. Der Temperaturregler blieb an gleicher Stelle – egal ob sie fror. Die Abfolge, wenn sie das Haus verließ, musste die gleiche sein. Tür öffnen, Schuhe nehmen. Erst den linken, dann den rechten. So und nicht anders. Schal ummachen, Jacke anziehen. Mehrmals an der Jacke ziehen und zerren, bis es sich richtig anfühlt. Tasche nehmen, Tür schließen, Schlüssel aus dem Kasten nehmen. Erst Autoschlüssel, dann Hausschlüssel. Abweichung bringt Unruhe, bringt durcheinander, durchbricht das Ritual. Vor dem Auto dreimal auf die Funkfernbedienung drücken, um das Auto zu öffnen. Tor öffnen, ins Auto einsteigen, anschnallen, Auto starten. Rückwärtsgang einlegen, wieder Leerlauf, Rückwärtsgang einlegen, wieder Leerlauf. Nach einem weiteren Mal endlich losfahren. Es ist um vieles einfacher, wenn O. uns fährt. Zumindest in Bezug auf das Auto gibt es dort keinen Zwang. Einfach einsteigen und aufs losfahren und ankommen warten.

Er weiß zum Teil, ahnt und sicherlich erkennt er auch, dass einige Sachen Rituale sind, aber ob er sie als das ansieht, was sie teilweise sind, weiß sie nicht. Ihr wird in dem Moment klar, wie sehr sie versucht vieles vor ihm zu verheimlichen. Vor allem, wie schwer es ihr fällt einem Drang nicht nachzugeben. Wie schwer es auszuhalten ist, etwas nicht dreimal tun zu können, weil es verrückt aussähe. Wie lang das Warten ist, bis sie ein Ventil findet, weil sie einem Drang nicht nachkam oder nicht nachkommen konnte. Und schon rief sich ihr besetzter Stuhl wieder ins Gedächtnis. Sie hasste diesen Stuhl und wusste doch auch, dass sie beim nächsten Termin wieder dort sitzen wird. Aber was wird sein, wenn auch dann ihr Platz wieder besetzt ist?

Eine Welle der Übelkeit grollte aus ihrem Magen empor. Sie musste aufstehen und anfangen etwas zu tun. Sie musste es schaffen, sich dahingehend dem Therapeuten anzuvertrauen. Sie musste versuchen Worte zu finden, die sich so gekonnt versuchten zu verstecken. Sie spürte die Unsicherheit und die Angst, ob er sie Ernst nehmen würde. So konnte es aber nicht weiter gehen. Ihr Geburtstag stand bevor und außerdem weitere Veränderungen. Ihr war klar, dass diese eine Zeit ist, in der sich ihre Macken noch mehr verstärkten und Kräfte raubten.

Doch bevor sie aufstand, musste sie erst jeweils dreimal überprüfen, ob sie ihre Gliedmaßen bewegen konnte…


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